Aus der Lehre … Pädagogische Fachzeitschriften 2007

Hans-Peter-Langfeldt

"Zappel-Philipp" und "Friederich der Wüterich": Prototypen verhaltensgestörter Kinder 

In diesem Artikel geht es über die Inhaltsanalyse des Gutachtens verhaltensgestörter Kinder. Laut Umfrage von rund 1000 Eltern sind 13 bis 28 % der Kinder psychische auffällig (Lehmkuhl et al. 1998). Jedoch gibt es weniger als 1 % der schulpflichtigen Kinder bzw. Jugendliche, die eine Sonderschule besuchen (Langfeldt & Kurth 1994, S. 156 – 164, zit. nach Langfeldt 2003, S. 191).

„Verhaltensstörung hängt (mindestens) vom kulturellen und zeitgeschichtlichen Kontext, von der konkreten Situation und von den Beobachtern ab“ (Langfeldt 2003, S. 192).

Laut Wickman müssen Lehrer und Lehrerinnen anhand einer Itemliste mit verschiedenen, unerwünschten Verhaltensweisen den Schweregrad der Störung des Schülers beurteilen.

Im Jahre 1928 galten beispielsweise heterosexuelle Aktivitäten, obszönes Reden, Masturbation und Stehlen als die schwerwiegendsten Verhaltensstörungen (Wickman 1974b, zit. nach Langfeldt 2003, S. 192). Heute zählen besonders Aggressivitäten im Unterricht und Aufmerksamkeitsstörungen zu den unerwünschten Verhaltensweisen (Langfeldt 1992a, zit. nach Langfeldt 2003, S. 192).

Aufgrund der Umschulung in eine Sonderschule gibt es dementsprechend Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen.

Eine speziell ausgebildete Sonderschullehrkraft kann durch Schreiben eines Gutachtens und einer Umschulungsempfehlung eine Umschulung des Kindes bzw. Jugendlichen in eine Sonderschule für Erziehungshilfen veranlassen. Dieses Gutachten basiert auf Gespräche mit den Eltern und den Lehrern, sowie auf die Beobachtung der Verhaltensweisen im Unterricht (Langfeldt 1998, S. 56 – 58, zit. nach Langfeldt 2003, S. 192). Die Erstellung des Gutachtens – von der Vorbereitung bis hin zur schriftlichen Formulierung – nimmt ungefähr 12 Zeitstunden in Anspruch. Gutachten sagen sowohl etwas über den Gutachtenden selbst als auch über den Begutachteten aus.

Methode 

1.     Stichprobe:

Es werden bei der Stichprobe 67 Gutachten über verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche inhaltlich analysiert. Aufgrund des Datenschutzes konnten nur von Schulaufsichtsbehörden zur Verfügung gestellte und anonymisierte Gutachten verwendet werden. Um eine Objektivität des Gutachtens zu ermöglichen, wurden die Gutachten von jeweils verschiedenen Gutachtern und Gutachterinnen erhoben. 

2.     Inhaltsanalyse des Gutachtens:

Zur Beschreibung der Personengruppe werden das Alter, der IQ sowie die bisherige Schulausbildung des Kindes bzw. Jugendlichen benötigt. Danach werden die Gutachtentexte nach den Regeln von Gigerenzer transformiert, indem Texteile bzw. Elementarinformationen erfasst und daraus Aussagen über das Kind bzw. den Jugendlichen formuliert werden. 

3.     Statistische Auswertung:

Die häufigsten Aussagen werden einer hierarchischen Clusteranalyse unterzogen (Backhaus, Erichson, Plinke & Weiber 1994; Bortz 1999, S. 547 – 566, zit. nach Langfeldt 2003, S. 193). Zur Bestimmung der Abweichungen der Aussagen werden die Differenzen zwischen den Merkmalen quadriert und danach aufsummiert. Abweichung liegen zwischen Null und ∞ (Symbol für „unendlich“). Bei dieser Clusteranalyse sollen homogene Cluster gebildet werden, indem jene Cluster fusioniert werden, die am geringsten unterschiedlich sind.

Ergebnisse 

Es wurden 54 Jungen (81 %) und 13 Mädchen (19 %) im durchschnittlichen Alter von 10 Jahren begutachtet. Bei der Clusteranalyse der 29 Aussagen mit einer Gesamthäufigkeit von mind. 10 % ergaben sich zwei Cluster-Lösungen.

Im Gutachten des Cluster 1 haben über 50 % der begutachteten Kinder Konzentrationsschwierigkeiten. Weiters berichten Gutachter und Gutachterinnen über motorische Unruhen, Aggressivität gegenüber Personen, Probleme im Sozialkontakt, als auch über Probleme Regeln zu beachten.

Auch im Cluster 2 sind die Schüler aggressiv, motorisch unruhig, laufen herum, haben Konzentrationsschwierigkeiten, verweigern die Leistung und haben Probleme im Sozialkontakt. Obwohl die Schüler am Unterricht interessiert sind, stören sie den Unterricht und provozieren ihre Mitschüler.

Im Cluster 1 wird auch über eine unauffällige Schwangerschaft und komplikationslose Geburt berichtet, hingegen werden im Cluster 2 diese Einzelaussagen nicht erwähnt.

Diskussion 

Das Gutachten des Cluster 1 kann der „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ zugeordnet werden, welche Konzentrationsschwierigkeiten und motorische Unruhen aufweist. Im Gegensatz dazu wird das Gutachten des Cluster 2 der „Störung des Sozialverhaltens“ zugeordnet. Merkmale dieser Störung sind Aggressivität gegenüber Personen, motorische Unruhen, Probleme im Sozialkontakt und Probleme beim Einhalten sozialer Regeln. Es wird beobachtet, dass beide Cluster inhaltlich ähnlich sind. Verhaltensgestörte Kinder können sowohl aufmerksamkeits-/hyperaktivitätsgestört als auch sozial gestört sein.

Zu den Prototypen für Verhaltensstörungen (Zappel-Philipp und Friederich der Wüterich) zählen im Gutachten vor allem Aufmerksamkeitsstörung und Aggressivität.

Quelle

Langfeldt, H. P. (2003). „Zappel-Philipp“ und „Friedrich der Wüterich“: Prototypen verhaltensgestörter Kinder. Eine Inhaltsanalyse von Gutachten. Zeitschrift für Psychologie in Erziehung und Unterricht, 50, S. 191 – 198. Basel : Ernst Reinhardt Verlag München.


Zu weiteren Fachartikeln




quellenangaben ::: impressumstangl.eu